Flexibel? – Aber bitte mit Sinn!

Constanze Eich in der Agora 42 – das philosophische Wirtschaftsmagazin

In Zeiten großer Veränderung sei es sinnvoll, flexibel zu bleiben: Generelle Anpassungsfähigkeit, Offenheit für Neues und innere Wandlungsfähigkeit sollen die Arbeitstauglichkeit und damit die eigene Existenz sichern. Wie aber sollen sich aus dieser haltlosen Haltung heraus sinnvolle Zukunftsaussichten ergeben?

Unbestritten. Wir stecken in einer Krise. Und das ziemlich tief. Wir stecken als Gesellschaft, als Weltgemeinschaft, vor allem aber als Individuen in der Krise. Unser Koordinatensystem vaporisiert. Verlässlichkeit, Dauerhaftigkeit und Verbindlichkeit, die vielleicht von jeher eine menschliche Illusion waren, lassen sich nicht länger weiterträumen. Vieles wird nur noch schneller, agiler, komplexer, globaler, vernetzter. Keiner weiß so recht, wohin es mit uns allen und der Welt gehen soll. Wir sind orientierungslos. Und wir haben keine Zeit, denn wir müssen ja an unserer eigenen Selbstoptimierung arbeiten. Es ist, als hätten wir die Kontrolle verloren. Nicht der Mensch kann noch verändern, sondern die Veränderungen haben den Menschen im Griff. Das Paradoxe ist, dass große, echte Reformen nicht mehr möglich scheinen, man aber gleichzeitig innerhalb der bestehenden Strukturen sich permanent neu erfinden will und muss. Oder anders gesagt: Wir befinden uns in einer Art Dornröschenschlaf bei gleichzeitiger Hyperaktivität. Wir resignieren im Großen und taumeln im Kleinen. Was uns fehlt, ist der übergeordnete Sinn, die große gemeinsame Erzählung, an die wir glauben können und für die es sich lohnt, aus dem 100-jährigen Schlaf aufzuwachen.

Gemeinschaft und Individuum

Die Frage ist also, wo ist sie hin, die große gemeinsame Erzählung? Die Antwort ist auf den ersten Blick recht einleuchtend. Wir haben sie gegen die Freiheit der individuellen Sinnfindung eingetauscht. Das moderne Individuum hat in fast allem die Wahl. Es wählt seine politische und sexuelle Orientierung. Es wählt seine Identität. Und verwirft sie wieder. Allein in der ersten großen Lebensentscheidung, welche Ausbildung, welches Studium, welchen Beruf wir anstreben, kann das Individuum unter zahllosen Angeboten auswählen und sich in dieser Wahlfreiheit verlieren. Jeden Tag sprießen neue Berufsbezeichnungen oder Studiengänge wie Pilze aus dem Boden. Das Gleiche gilt für die Varianten der Lebensführung. Selbst die Religion kann man sich heute selbst basteln und nach je akutem Glaubensbedarf zusammenstellen. Jeder ist schließlich seines eigenen Glückes Schmied. Doch wie schmiedet man sein Glück in einer sich permanent wandelnden Welt? Wie erschafft man ein kohärentes Selbstbild, das trägt? Wirklich leicht fällt das kaum jemandem. Die Fragen nach der eigenen Existenz, dem Ziel oder dem Sinn sind angesichts der zahlreichen Antworten nicht endgültig beantwortbar.

Seid flexibel!

Und doch scheint es eine Lösung zu geben, welche dieser Vielfalt Rechnung trägt. Eine Zauberformel, einen Imperativ, der uns erlösen und einen neuen Horizont weisen soll. Dieser Imperativ lautet: Seid flexibel! Die Ansage der Stunde ist nämlich: „Wer bewusst vielerlei Erfahrungen sammelt und sich ein reichhaltiges Repertoire an verschiedenen Verhaltensweisen zurechtlegt, der ist in der Lage, sich an die Erfordernisse jeglicher denkbaren Situation anzupassen.“ Im ersten Moment atmet man auf und stimmt zu. Natürlich müssen wir anpassungsfähig bleiben. Natürlich wollen wir uns entwickeln. Natürlich wollen wir offen sein für Neues. Der Mensch ist biologisch betrachtet von jeher ein Anpassungswunder – allerdings ist er dabei nicht der Schnellste. Ist daher die angebotene Lösung, um jeden Preis flexibel zu sein, vielleicht ein Trugschluss? Die beschleunigte Welt pervertiert ja geradezu unsere Fähigkeit zur Anpassung. Wo genau liegt der Sinn in einer künstlich trainierten Anpassungsfähigkeit, die keinem klaren Ziel folgt, sondern nur dem schlichten Überleben dient? Entfremden wir uns nicht noch mehr von uns selbst, wenn wir die Flexibilität zum Allheilmittel stilisieren? Flattern wir dann nicht wie die Fähnchen im Wind?

Grenzen der Flexibilität

Vielleicht können wir durch flexibleres Verhalten besser funktionieren: Schneller wieder auf die Füße kommen, wenn es uns an Halt oder Richtung fehlt. „Seid also nicht zu verkrampft! Wer flexibel ist, ist besser dran.“ Aber führt diese absolut gedachte Form der Flexibilität nicht noch tiefer in die Krise hinein? Lässt sie die Leere in uns nicht noch deutlicher zu Tage treten, selbst wenn wir sie durch den lärmenden Alltag hindurch nicht hören können? Flexibilität setzt voraus, dass wir die eigene Biografie nicht kohärent, sondern bruchstückhaft, aus unterschiedlichsten Erfahrungen, zusammensetzen. Letztlich führt uns dieses Flexibilitätstraining allerdings weiter weg von dem, was uns in unserer Existenz stärkt. Echte Brüche in der Biografie sind meist tiefe Einschnitte, die die eigene Existenz ins Wanken bringen. Identität oder gar Sinnhaftigkeit bildet sich nicht durch ein Training an Flexibilität heraus. Identität ist an kein äußerlich vorgegebenes Ziel gebunden. Sie nährt sich aus unserem Selbstverständnis und unserer inneren Bestimmung, für die wir lediglich ein Bewusstsein entwickeln müssen.

Die kleine große Sache

Vielleicht muss der Imperativ deshalb lauten: Widmet euch einer großen Sache! Allein die Überlegung, was das denn sein könnte, ist sinnstiftender als alles andere. Außerdem setzt sie voraus, dass wir bewusst innehalten! Das kurze Aussteigen aus dem Hamsterrad hat nicht nur den Vorteil, die eigene Lebenssituation zu überdenken. Das Innehalten kann wie eine Atempause in der atemlosen Zeit sein, in der wir leben. Ökonomisch betrachtet ist der Müßiggang wie auch das Nichtstun schädlich. Doch gerade dann, wenn wir uns augenscheinlich unproduktiv verhalten, handeln wir ganz unbewusst völlig sinnvoll. Denn gerade in diesen Augenblicken der Atempause arbeitet unsere Kreativität. Erst die Nicht-Beschäftigung oder die Beschäftigung mit dem anderen bringt die tatsächliche geistige Erholung und ist Voraussetzung dafür, dass wir sinnvolle von sinnloser Produktivität unterscheiden können. Das gilt ebenso im übergeordneten Sinn: Eine Gesellschaft, die sich immer nur um das Gleiche dreht, ist eine Gesellschaft, die sich keine Atempausen und keine Freiräume für kreatives Nachdenken gönnt. Freiräume zu schaffen, die nicht nur Selbstzweck oder Feigenblätter sind, erfordern Mut, aber auch Handlungsbereitschaft. So können aus einem Innehalten Taten folgen, die einer großen Sache dienen.

Der Dialog

Doch was bringt es, wenn man für sich die große Sache gefunden hat? Läuft man nicht Gefahr, sich zu verrennen, wenn man seine Flexibilität zugunsten einer „großen Sache“ aufgibt? Einer Sache, die einen zwangsläufig festlegt? Tatsächlich muss dem Verschreiben einer großen Sache ein weiterer Imperativ zur Seite gestellt werden: Sucht den Dialog! Das klingt zunächst absurd, denn wir haben nie zuvor mehr kommuniziert als heute. Die tägliche Multikommunikation ist ja gerade das, was uns erschöpft. Aber vielleicht ist es an der Zeit, dass wir, die wir im Kommunikationszeitalter leben, wieder lernen, schlicht miteinander zu sprechen. Nur im bewusst geführten Dialog, in der vollen Aufmerksamkeit auf den anderen kann sich das ICH am DU erholen, Gedanken zu Ende denken und neue Impulse einholen. Und wo, wenn nicht in einem solchen Dialog, werden Empathie und Aufmerksamkeit geschult? Beides sind Fähigkeiten, die unsere Existenz bereichern und uns als Menschen wieder menschlicher machen. Die zunehmende Individualisierung hat nicht nur zum Verlust des Individuums geführt, sie hat auch die Fähigkeit zum Dialog in den Hintergrund treten lassen.

Echter Dialog öffnet sich für den anderen, vielleicht auch für das Fremde an ihm und in uns und ermöglicht im selben Zug von Erfahrungen anderer zu lernen. Entscheidend für die Sinn-Erfahrung ist der zwischenmenschliche Kontakt, die Konzentration auf ein Gegenüber, das Gemeinschaft stiftet und Entfremdung auflöst. Das große dauerhafte WIR-Gefühl, nach dem wir uns so sehnen, wird es vielleicht nicht geben, doch der echte Dialog bricht die Vereinzelung der Menschen wieder auf und lässt Gemeinschaft zu. Die Art, wie wir einander begegnen wollen, kann also gleichsam fester Bestandteil unseres Selbstbildes und damit sinn- und identitätsstiftend sein.

Unbestritten. Wir stecken bis zum Hals in der Krise. Doch es gibt immer Hoffnung. Beginnen wir damit, uns wieder neu die Frage nach unserer eigenen Existenz zu stellen: Wer bin ich? Wohin will ich? Was ist meine Bestimmung? Nur wenn wir uns diese Fragen bewusst stellen, uns selbst wieder ernst nehmen, können Antworten entstehen, aus denen wir sinnvolle Ziele entwickeln und Richtungsentscheidungen mutig treffen können. Erst unter diesen Voraussetzungen entfaltet die Flexibilität ihre Wirksamkeit, weil wir damit auf Veränderungen wirkungsvoll reagieren, neue Impulse integrieren und Widerstände überwinden können. Wahre Flexibilität setzt voraus, dass man in entscheidenden Momenten auch standhaft sein kann. So können wir die Kontrolle über uns selbst zurückgewinnen und uns nicht mehr von den Wellen unserer Zeit hin- und herwerfen lassen.

Anhang herunterladen


Anhang herunterladen